Karl Liebknecht war ein Rechtsanwalt. 1871 geboren, studierte er in Leipzig und Berlin und eröffnete 1899 zusammen mit seinem Bruder Theodor und Oskar Kohn eine Kanzlei in der Chausseestraße 121 in Berlin-Mitte. Ein paar Häuser weiter wohnte sechs Jahrzehnte später Wolf Biermann, dessen erste Langspielplatte Chausseestraße 131 heißt.
Vater Wilhelm Liebknecht war ein Mitbegründer der SPD, Sohn Karl trat 1900 in die Partei ein, 1912 errang er ein Reichstagsmandat. 1916 schloss ihn die SPD wegen seiner konsequenten politischen Arbeit gegen den Ersten Weltkrieg aus der Fraktion aus. Für seinen Ausruf „Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung!“ am 1. Mai 1916 erhielt Liebknecht vier Jahre Festungshaft, im Oktober 1918 wurde er amnestiert. Am 15. Januar 1919 ermordeten Freikorps ihn und Rosa Luxemburg. „Man war am Neuen See.“ schreibt Alfred Döblin in Karl und Rosa, dem vierten Band seiner Tetralogie November 1918. Die Angehörigen des Gardeschützenregiments handelten, wenn nicht auf Befehl, so doch in jedem Fall mit ausdrücklicher Billigung von Gustav Noske und anderen sozialdemokratischen Funktionären. Nicht nur die Revolution, auch die SPD frisst ihre Kinder und wundert sich dennoch, wenn es einsam um sie wird. [Klaus Gietinger, Sammelrezension. Die Revolution von 1918/19, HSozKult, 24.08.2018]
Schon vor dem Ersten Weltkrieg stand Karl Liebknecht vor Gericht. 1907 verurteilte ihn das Reichsgericht für die Publikation der Schrift Militarismus und Antimilitarismus wegen Hochverrats. Liebknecht unterschied darin zwischen äußerem und innerem Militarismus und führte zu letzterem aus: „Allerdings soll nicht vergessen werden, daß sich der Militarismus auch gegen den inneren nationalen, selbst religiösen „Feind“ – in Deutschland zum Beispiel gegen die Polen, Elsässer und Dänen – richtet.“ [marxists.org, Karl Liebknecht, Militarismus und Antimilitarismus, 1907]
Anfrage zur „Ausrottung der Armenier“ 1916
Sozialist sein bedeutete für Liebknecht auch, für den Schutz von Minderheiten zu kämpfen. Im Januar 1916 stellte er im Reichstag eine Anfrage zur Politik des Osmanischen Reichs, in der er ausdrücklich „von der Ausrottung der türkischen Armenier“ sprach und damit gegen die Regeln der Kriegszensur verstieß. [Richard Albrecht, Karl Liebknecht und Genossen. Die ‚Ausrottung der Armenier‘ während des Ersten Weltkrieges und die deutsche politische Linke, 2006]
Neben Liebknecht gab es nur zwei weitere Abgeordnete, die die Vernichtungsmaßnahmen dieses Verbündeten des deutschen Kaiserreichs offen kritisierten: der 1921 ebenfalls von Freikorps ermordete Matthias Erzberger (Zentrum) und Eduard Bernstein (SPD), der starb, sieben Wochen bevor Hitler Reichskanzler wurde.
Auch an Liebknecht denke ich, wenn ich lese, dass heute die Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız aus Frankfurt/Main schwerste Drohungen erhält. Başay-Yıldız war Nebenklagevertreterin der Angehörigen des NSU-Opfers Enver Şimşek, sie setzt sich für die Rechte von islamistischen Gefährdern ein. Die Drohungen gegen sie enthalten sexistische fremdenfeindliche und rassistische Elemente, aber im Interview mit der Süddeutschen Zeitung stellt sie klar: „Aber eigentlich geht es um meine Tätigkeit als Anwältin.“ [Seda Başay-Yıldız , „Ich habe keine Angst“, Süddeutsche Zeitung, 14.01.2019, Interview: Annette Ramelsberger]
Völlig zurecht kritisiert sie die von Horst Seehofer, Alexander Dobrindt und anderen verbreitete Formulierung von der „Anti-Abschiebe-Industrie“. Wer Anwälte als Organe der Rechtspflege zu Feinden erkläre, greife den Rechtsstaat selbst an. Angst habe sie nicht, auch wenn die Verfasser(*innen?) der beiden Drohbotschaften vom August und Dezember 2018 interne Informationen besitzen, auf die nur die Polizei Zugriff hat.
Systematische Abwertung von Minderheiten
Ich halte es für übertrieben und historisch falsch, die Bundesrepublik mit der Weimarer Republik oder die AfD und Pegida mit den Nationalsozialisten zu vergleichen. Aber die Entwicklung der letzten drei Jahre ist schlimm und menschenfeindlich genug. Der aktuelle „innere Militarismus“ betreibt die systematische Abwertung von Minderheiten und schwachen Gruppen. Es geht um Verächtlichmachung, es geht darum, eine empathiefreie Zone zu schaffen, in der Migrant*innen, Flüchtlinge, Obdachlose, Schwule und andere schutzlos sind und zum Ziel von Anfeindungen gemacht werden können. Der Angriff auf den Bremer Bundestagsabgeordneten Frank Magnitz ist eine schwere Straftat und verwerflich. Aber während der AfD im Fall von Magnitz kein Vorwurf zu dramatisch sein konnte, schweigen sich ihre Funktionär*innen grundsätzlich aus, wenn Gewalt gegen Menschen verübt wird, die die AfD für fehl am Platz in Deutschland hält.
Weder zu den Drohungen gegen Seda Başay-Yıldız noch zu den Hunderten von Anschlägen gegen Flüchtlinge und Migrant*innen findet die AfD klare Worte der Abgrenzung. Das bewirkt zweierlei: Durch ihr Schweigen impliziert die AfD, Angehörige der Mehrheitsgesellschaft wie Magnitz seien wertvoller als Menschen, die die AfD als Gegner definiert. Zum anderen legt sie dadurch einen Köder für die Spaltung der Gesellschaft aus, den viele bereitwillig schlucken: Wenn die AfD kein Mitgefühl für Opfer rassistischer Gewalt zeigt, so der Impuls der Empörung, dann werden wir auch kein Mitgefühl für Magnitz zeigen. Damit ist die Spaltung der Gesellschaft in Wir und Sie vollzogen. Und genau das will die Neue Rechte. Sie will gesellschaftliche Institutionen wie öffentlich-rechtliche Medien ebenso zerstören wie die Prinzipien, die eine offene Gesellschaft begründen, zum Beispiel das Recht auf rechtliches Gehör oder das Prinzip der körperlichen Unversehrtheit.
Seine Schrift zum Militarismus verfasste Karl Liebknecht nicht als Anwalt, sondern als SPD-Funktionär in der Jugendarbeit. Trotzdem weigerte sich die Berliner Anwaltskammer 1908, ihn aus der Anwaltschaft auszuschließen. Seine Kollegen akzeptierten zwar die strafrechtliche Verurteilung, hielten eine berufsrechtliche Sanktion jedoch nicht für zwingend. Anwält*innen sind von Berufs wegen für Menschen da, die mit den Normen einer Gesellschaft in Konflikt geraten, im Sozialrecht beispielsweise mit der Norm, mindestens der unteren Mittelschicht anzugehören. Sie müssen ohne Drohungen arbeiten können. Das gilt für Seda Başay-Yıldız ebenso wie für die Angehörigen des Republikanischen AnwältInnenvereins, die während des G20-Gipfels in Hamburg pauschal delegitimiert wurden. Die Arbeit des Anwalts Karl Liebknecht ist auch heute kaum bekannt. Sein Bild ist geprägt von seiner politischen Bedeutung und seinem gewaltsamen Tod vor 100 Jahren.