#Nazi oder Die Beliebigkeit der Begriffe

HISTOX Zeit und Geschichte

Abb. 1. Herbst 2020

Im Herbst 2020 sah ich den Mordaufruf „NAZIS TÖTEN.“ zum ersten Mal. Die Parole befand sich im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg zwischen den Bahnhöfen Schönhauser Allee und Gesundbrunnen direkt am S-Bahnring, der bis auf ein paar Stunden Pause in den Nächten der Wochentage rund um die Uhr befahren wird. Neben der Parole führt eine autofreie Brücke über die Gleise. Zehntausende von Menschen kommen jeden Tag hier vorbei. Auch ich fahre regelmäßig Ringbahn, wenn nicht gerade Lockdown ist.

Dieser Mordaufruf enthält für mich zwei Fragen: Wie fertigt man so etwas an, und wie wurde diese Parole rezipiert? Meine praktische Erfahrung beim Anbringen von Wandparolen liegt bei Null. Ich habe bisher weder gesprayt noch getaggt, nur die Wände meiner Wohnungen habe ich tapeziert und gestrichen. Der Aufruf ist etwa 12 Meter lang und 2,50 Meter hoch, also 30 Quadratmeter groß, dazu mit landestypischer Gründlichkeit schwarz grundiert, damit man die weiße Schrift besser lesen kann. Ich benötige für 30 Quadratmeter Weiß auf Beton (erster Anstrich) mindestens sechs Stunden. Wie lange braucht ein Profi? Bei Tag, bei Nacht? Gab es ein Team? Wie viele waren dabei? Hatten sie Leitern, Rollen mit Teleskopstangen? Haben sie sich von oben, vom Aldi-Parkplatz abgeseilt? Wie viel Farbe braucht man für diese Fläche? Gab es Zuarbeiter*, die die Farbeimer von oben gehalten haben? Haben sie die Farbe vorher umgefüllt, um keine 15 Liter-Eimer herumwuchten zu müssen? Wie lange hat die Grundierung getrocknet? Gab es Leute, die Schmiere gestanden haben? An beiden Enden der Brücke?

Eindrucksvolle Logistik, widerwärtiger Inhalt

Zweifellos hat der Anstreicher mit oder ohne Gefolge eine logistisch eindrucksvolle Leistung vollbracht. Gerade deshalb ist die Botschaft so widerwärtig und gefährlich. Das war kein hingerotzter Nazi-Vergleich, keine schnelle, verhuschte Nummer mit der Sprühdose (Abb. 2), keine Entgleisung aus spontaner Wut. Hier ging man planvoll zu Werke. In aller Ruhe, mit jener Kälte, die es braucht, um eine übermenschlich große Aufforderung zum Mord mitten im Stadtgebiet anzubringen; mitten im Prenzlauer Berg, der zum Wahlbezirk Pankow gehört, wo bei der Bundestagswahl 2017 SPD, Linke und Grüne zusammen 59,4 Prozent erzielten. Was zur Rezeption führt.

Gab es Zeugen*? Spaziergänger* auf der Brücke, die sich zufrieden zunickten, weil sie dachten: „Die Jugend von heute schreibt das, was gesagt werden muss.“ Oder die Anwohner* der Dänenstraße, die die Botschaft jetzt jeden Tag von ihren bodentiefen Fenstern aus sehen können. Konnten sie die Heinzelprediger* und Hassmännchen* beobachten? Dachten sie: „Hoffentlich ist es Bio-Farbe.“? Was ist mit der jungen Generation? Saßen Kinder mit ihren Eltern in der S-Bahn und fragten: „Wieso Nazis töten? Die sind doch alle schon fast hundert Jahre alt.“ Und war die Antwort der Eltern dann: „Nein, mein Kind. Wir sind umzingelt von Nazis. Es gibt sie überall, und je mehr wir ausfindig machen, desto gerechter wird unsere Sache.“ Und wenn das Kind dann gefragt hätte: „Und den alten Mann aus dem Nachbarhaus, der immer keine Maske trägt, und deshalb als Coronazi beschimpft wurde, den töten wir auch?“, dann hätte die Antwort lauten können: „Ja, den Herrn Scharkowski, der seit 38 Jahren im Hinterhaus Parterre wohnt, ohne bodentiefe Fenster, der lautstark auf den Staat schimpft, DDR-Vergleiche vom Stapel lässt und keine Maske trägt, weil ihm Corona mit seinem Lungenemphysem ebenso scheißegal ist wie die Helikoptereltern, die zwischen den Parolen „Unsere Kinder sterben!“ (Schulen zu) und „Unsere Kinder verlieren die Grundlage für ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit!“ (Schulen auf) hin und her schweben: Den töten wir auch.“

Alles nur ein Missverständnis

Halt, werden jetzt einige sagen: So war diese Parole ja gar nicht gemeint. Sie war nur der Hinweis, dass es Nazis gibt, die Menschen töten. Das wird man ja wohl noch sagen dürfen, oder an die Wand malen. Aber so einfach ist es nicht. Die Diskursverschiebung, die Radikalisierung, behält sich immer das Missverständnis als Ausflucht vor. Erst haut man eine Entgrenzung raus. Wenn die Zeit noch nicht reif dafür ist, bedauert man den vielen Lärm um nichts, rügt betont sachlich die hysterische Reaktion und probiert es beim nächsten Mal wieder. In weiten Teilen der Linken ist es seit mehr als 50 Jahren schick, mit politischer Gewalt bis zum Mord zu kokettieren. Am 1. Mai 1987, dem Ersten Mai, wurde eine Filiale der heute nicht mehr existierenden Supermarktkette „Bolle“ in Kreuzberg leergeräumt, im November desselben Jahres wurden in Frankfurt/Main an der Startbahn West zwei Polizisten erschossen. In den Monaten danach kursierte als link(sradikal)e Folklore der Zweizeiler: Plündert Bullen, tötet Bolle / die Reihenfolge spielt keine Rolle. Ist ja alles nicht so gemeint, und die RAF war nur ein übermotiviertes Kollektiv von Performancekünstlern*.

Abb. 2, Berlin-Schöneberg, März 2021

Vor einem Jahr veröffentlichte ich hier meinen Text Das Rettende auch. Hoffnung gibt es ebenfalls bei der Wandparole. Seit Anfang Februar 2021 heißt sie: „NAZIS TÖTEN MENSCHEN“ (Abb. 3). Das „MENSCHEN“ wurde senkrecht am Ende als Ausrufezeichen hinzugefügt. Wer immer die Traute hatte, die ursprüngliche Mordpropaganda auf diese Weise zu entschärfen, sie seien bedankt. Wenn sogar Wandparolen in zweiter, vollständig durchgesehener, kritischer Neuausgabe erscheinen, kann sich niemand über das Diskursniveau beschweren.

Die Banalisierung der Bösartigkeit

Bleibt nur noch dieser überflüssige, sinnfreie, allenthalben inflationär verwendete Begriff „Nazi“. #Coronazi ist für mich das Unwort des Jahres 2020. Unbotmäßigkeit bei Pandemieregeln mit dem Nazi-Terror vor 1933 auf eine Stufe zu stellen, ist geschichtslos. Ein Vergleich mit dem Regime selbst, vor allem mit seinen Massenverbrechen ab 1939 ist die Banalisierung der Bösartigkeit. #Covidioten war nicht viel besser. Beides ist auf Twitter wieder aus der Mode gekommen.

Woher kommt diese Versessenheit, den Begriff „Nazi“ zu reaktivieren und in vollkommener Beliebigkeit pausenlos damit um sich zu werfen? Vor etwa zwanzig Jahren habe ich den Vortrag eines pädagogischen Mitarbeiters des US Holocaust Memorial Museum (USHMM) gehört. Das USHMM arbeitet in seinen Ausstellungen und pädagogischen Programmen keineswegs nur zur Vernichtung der europäischen Juden durch Nazi-Deutschland, sondern stellt ganz bewusst Verbindungslinien zu heutigen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Diskriminierung her. Zu den NS-Verbrechen sagte der Mitarbeiter: „We can’t tell the kids what is absolutely good, but we can show them absolute evil. – Wir können den Kindern nicht sagen, was absolut gut ist, aber wir können ihnen das absolut Böse zeigen.“ Ob es pädagogisch klug ist, so vorzugehen, ist eine Frage für sich. In den aktuellen Debatten jedenfalls gibt es einen großen Bedarf an Moralisierung, die die klare Unterscheidung in Gut (meine Gruppe) und Böse (eine andere Gruppe) ermöglicht. Ob das Versagen der Aufklärung und der bürgerlichen Demokratie beim Versprechen auf Gleichheit vor dem Gesetz zurecht angeprangert wird, ist auch eine Frage für sich. Ich akzeptiere „Nazi“ als Ausdruck von Abscheu und Ablehnung. Wer heute „Nazi“ sagt und meint „Ich finde dein Verhalten so widerlich und schlimm wie das, was ich über die historischen Nazis in Wort, Schrift und Bild akkumuliert habe.“ – diesen Ausdruck eines Gefühls kann ich nachvollziehen. „Nazi“ wird so zum Schimpfwort, wie „Kotzbrocken“. Aber Kotzbrocken ist keine Erkenntniskategorie.

Es wäre besser, „Nazi“ auf das historische Phänomen zu beschränken. Der Bezug auf das vermeintliche absolute evil birgt die Gefahr der Entmenschlichung jener, die mit diesem Begriff belegt werden. „NAZIS TÖTEN MENSCHEN“ kann man auch lesen als: Nazis sind keine Menschen. Deshalb würde ich auch auf den Nominalstil verzichten. Ich würde nicht sagen: „Du bist ein Nazi.“, sondern „Deine Aussagen verharmlosen die NS-Vernichtungspolitik.“ Oder: „Deine Aussagen über Migranten* reproduzieren rassistische Klischees. Hör auf damit!“

Der Verzicht auf den Nominalstil zwingt zu mehr Genauigkeit. „Nazi“ ist ein Rundumschlag, der nicht trifft. Wer ist gemeint, wenn die Rede von historischen Nazis ist? Die völkische Gruppierung von 1923 mit ihrem Hitler-Ludendorff-Putsch? Die Regierungspartei von 1933 in Koalition mit der DNVP, die in Windeseile demokratische Strukturen und die Zivilgesellschaft zerschlug und vereinzelt Menschen tötete? Oder das Regime von 1943, das europaweit Vernichtungspolitik betrieb?

Zurück nach 1953, nicht nach 1933

Die heutigen völkischen Rechten sind gefährlich, oft pseudo- oder antidemokratisch und voller Menschenverachtung, manchmal gewalttätig, selten mörderisch, immer widerwärtig aus Sicht derjenigen, die ihnen als Feindbild dienen. Nazis sind sie nicht.

Das wichtigste Ziel der historischen Nazis war es, Krieg zu führen. Die überwiegende Mehrheit der Gründungsgeneration und Führungsebene waren Veteranen des Ersten Weltkriegs, die ihre Gewalterfahrung lustvoll und ungebremst in die innenpolitische Auseinandersetzung einbrachten. Die heutige völkische Rechte ist fast immer rassistisch, frauenfeindlich und islamophob, seltener antisemitisch. Sie sehnt sich nach Autoritäten und autoritären Strukturen, aber Krieg führen will sie nicht. AfD und Pegida erfreuen sich wie alle anderen der längsten Phase ohne Krieg in der deutschen Geschichte. Sie wollen weniger Bundeswehreinsätze, nicht mehr. Sie wollen nicht zurück nach 1933, sondern nach 1953. Sie wollen ihre Ruhe. Für sie ist die noch einmal davongekommene ehemalige Volksgemeinschaft ein Sehnsuchtsort. Damals waren Lesben unsichtbar, Schwule kamen ins Gefängnis. Frauen blieben zuhause, ohne Genehmigung des Mannes durften sie nicht arbeiten. Es gab keine sozialen Bewegungen, keine Klimakrise, keine Arbeitsmigranten* und deren Nachkommen. Deutsch war eine Schicksalsgemeinschaft. Prozesse gegen NS-Täter* fanden nicht statt. Es gab auch fast keine supranationalen Organisationen mit internationalen Verpflichtungen. Der NATO-Beitritt kam erst 1955, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montanunion) gründete sich 1951. Nicht nur Ludwig Erhard war dagegen. Er befürchtete wirtschaftliche Nachteile für die Bundesrepublik: Die antieuropäische „Zahlmeister“-Verschwörungstheorie vom „Vater des Wirtschaftswunders“ persönlich. Ähnlich reaktionär, aber anders akzentuiert, ging es in der frühen DDR zu.

Die völkische Rechte in westlichen Staaten heute baut auf homogenen Nationalismus ohne militärische Aggression. Festung Deutschland, Festung Polen, Festung Ungarn, Festung Großbritannien, America First. Lauter Festungen, aber keine Wehrmacht mehr auf dem Kaukasus. Das ist ein Unterschied ums Ganze. Die „Nazi“-Phrase geht am Problem vorbei. Sie leugnet die vielen kleinen Schritte, die große Distanz die seit 1945 zu diesem Regime aufgebaut wurde, um in Deutschland Demokratie und Zivilgesellschaft aufzubauen. Wovon man sich (nicht) emanzipierte (Kirche, Familie, Heteronormativität, Militär, Schutzmacht, Partei), das war in Ost und West sehr unterschiedlich.

„Nazi“ ist ein Popanz – es geht um bürgerliche Kontinuitätslinien

Der Verzicht auf „Nazi“ ermöglicht es, die Kontinuitätslinien vor 1933 und nach 1945 herauszuarbeiten: Zum Beispiel polizeilichen Rassismus gegen Sinti und Roma. In Kaiserreich und Weimarer Republik wurden jahrhundertealte Stereotype verrechtlicht und zur staatlichen Praxis. Mit dem Begriff des „nach Zigeunerart Umherziehenden“ schuf man ein Feindbild mit Begriffen der polizeilichen „Gefahrenabwehr“. An diese Praxis, nicht an das „Zigeunerlager Auschwitz“ knüpfte die Polizeiarbeit in der Nachkriegszeit wieder an. Bis heute gibt es antiziganistische polizeiliche Ermittlungsarbeit gegen Sinti und Roma. „Nazis“ sind heutige Polizisten* auch dann nicht, wenn sie Waffen horten oder Hitler-Memes in Chats verbreiten.

Ähnlich wie bei der Kritik des deutschen Kolonialismus, der im Schatten der NS-Verbrechen lange kaum Beachtung fand, sind es bürgerliche Kontinuitäten, die der Analyse bedürfen. Die AfD verbreitet bürgerlichen Rassismus, sie hat ein bürgerliches Frauenbild, ihre Schnittmenge mit der bürgerlichen Mitte 1953 ist größer als mit der 2021. Die fünfziger Jahre gehören in den Fokus. Was heute beschämend oder abwegig ist, verweist auf die Zumutungen beider Nachkriegsgesellschaften. Wie ist es möglich, dass diese Wertvorstellungen bis heute wie eingefroren erhalten bleiben konnten?

Der Traum der Selbstermächtigung

„Sei kein Nazi!“ Dieser Befehl war unter den Bedingungen des Besatzungsregimes der Siegermächte, die Entnazifizierung, Prozesse, Reeducation und Antifaschismus organsierten, legitim. Besonders wirksam war er nicht. Die Deutschen gehorchten (wie immer?), und lernten, sich zu verstellen. Die Schutzmächte in Ost und West schauten weg, um ihren Musterstaat im Kalten Krieg wirksam zu positionieren.

Wenn ich heute jemandem sage: „Du bist ein Nazi“ und damit verlange, er soll kein Nazi sein, fordere ich semantisch, dass er seine Persönlichkeit aufgibt. Er soll ein anderer werden. In einer offenen Gesellschaft, die für ihre Bildungsarbeit ein „Überwältigungsverbot“ formuliert hat, ist das nicht zulässig. Zulässig ist, ein anderes Verhalten einzufordern. Es gibt keine Befehle mehr, dafür (Strafrechts)-Normen und Eingriffe der Verwaltung in Grundrechte, die verhältnismäßig sein müssen und gerichtlich überprüft werden können.

Eugen Kogon (1903-1987), der Buchenwald-Häftling, der mit der Der SS-Staat 1946 eine der ersten Analysen des NS-Systems veröffentlichte, sagte nach dem Krieg über die zehn Millionen Mitglieder der NSDAP und ihrer Organisationen, mithin über Zehntausende von Mördern: „Man kann sie nur töten oder gewinnen.“ Wer heute „Nazi“ sagt, meint keine Einsatzgruppen, keine Gestapo-Beamten, keine Henker in Richterrobe, sondern vor allem Menschen, die „Ausländer raus!“ brüllen oder von „Gender-Wahnsinn“ reden.

Abb. 3, Februar 2021

Einige basteln sich aus dem „Nazi“-Popanz ihren Traum von der Selbstermächtigung. Wenn es notwendig war, gegen die echten Nazis den größten Krieg der Geschichte zu führen und gerechtfertigt, Städte in Schutt und Asche zu legen, Millionen zu vertreiben, Täter hinzurichten und ein Besatzungsregime zu installieren, dann werde ich als Bannerträger von Menschenwürde, Freiheit und Respekt ja wohl dem „Nazi“ von heute das Wort verbieten, die Fresse polieren, das Parteibüro verwüsten dürfen. Ich wehre den Anfängen. Würde ich auch „Nazis töten“, wenn ich oft genug dazu aufgefordert werde? Es kommt darauf an, wie ich das Menetekel am Prenzlauer Berg verstehen will. Selbst, wenn die AfD verboten werden würde, entscheidend sind die 5,9 Mio. Menschen, die sie 2017 gewählt haben. Sie werden da sein, unter welchem Label, in welcher Konfiguration auch immer. Man muss sie gewinnen.

„Niemand töten“ wäre eine schöne Parole.

Nachtrag 13.05.2021

Als ich am 30.04.2021 über die Fußgängerbrücke kam, war die Parole übermalt worden (Abb. 4). Ich maße mir nicht an, dass es an diesem Text liegt, aber mich freut es, dass sie verschwunden ist. Die Malerarbeiten sehen professionell aus, ich tippe auf die S-Bahn-Betriebsgesellschaft, die nach dem Winter allmählich die Gleisanlagen überarbeitet.

Abb. 4