Café Einstein, 3. April 2022

A pleasant café

HISTOX Cultural Studies, Stadt Land Fluss

Café Einstein, Frühjahr 2022

It was a pleasant café, warm and clean and friendly…“ Das Zitat aus Hemingways Buch über seine Zeit in Paris stand früher einmal in der Getränkekarte des Café Einstein, Stammhaus, Kurfürstenstraße. Stammhaus lässt einen an Stammessen denken. Das klingt nicht besonders elegant. Das Einstein strahlt Eleganz aus durch das dezente Auftreten aller Anwesenden und die Abwesenheit von Musikbeschallung. In Paris brachte der Garçon Hemingway einen Café au lait, „…and I took out a notebook from the pocket of the coat and a pencil and started to write.“ So archaisch-analog war das damals. Hemingways serielle –and– Verschaltungen haben etwas Ermüdendes, klingen aber unglaublich authentisch. Wie anders ist der Akt des Schreibens doch heute. Ich habe fünf Jahre in der Simon-Dach-Straße in Friedrichshain gelebt. Auch dort schrieben ich und andere in den Cafés. Im Sommer produzierten, planten und pitchten wir unter freiem Himmel. Die Klapprechner unterlegten alles mit dem Tastengeklacker eines Großraumbüros. Wegen der Rechnerflut hat das supernerdige Books and Bagels Warschauer Ecke Grüntaler die Nutzung von Laptops auf bestimmte Tische beschränkt.

Im Einstein habe ich noch nie ein Laptop auf einem der quadratischen Marmortische mit Goldrand gesehen. Der postpandemische Café au lait kostet acht Euro. Mittlerweile verkehren hier wohl nur noch die Reichen, die Hemingway das Leben und die Schreibe versauten, als er sie in seine Welt hineinließ. Andererseits sind es ja Kännchen; zwei Kännchen mit Kaffee und geschäumter Milch, die zusammen drei Tassen ergeben. Ich habe also die Wahl, ob ich mich als big spender fühlen möchte, oder als preisbewusster Parvenü, der die acht Euro auf die Tasse umrechnet. In jedem Fall tut es mir gut, wieder Orte aufzusuchen, die mich anregen. „Inspiration“ bedeutet „Beseelung“.

Immer irgendwelche Filmgrößen

The early days, when we were very poor and very happy“, mit deren Beschwörung „A moveable Feast“ endet, sind vorbei, wenn du im Einstein sinnierst und dinierst. An den Nebentischen sitzen häufig Menschen, die es zu etwas gebracht haben, zu einem dritten Ehemann oder einem zweiten Bypass. Es tummeln sich hier sorgfältig lesende Feuilletonisten*, schnell redende Volljuristen* und gerüchteweise immer irgendwelche Filmgrößen. Manchmal auch Übergrößen. Allein der Kaiserschmarrn lässt einen vergessen, dass man jemals schlank war oder sein wollte.

Das Einstein hatte das Glück, bereits zur eigenen Legende geworden zu sein, als ein Ruck durch die Berliner Gastronomie ging, der in einer großen Massenpsychose kulminierte, und die Wirte* zwang, die Wände aller zwischen 1990 und 2000 neu eröffneten Etablissements in einem hellen Ockerton nass zu schwämmeln. Vom Einstein würde das keiner verlangen, auch nicht die Unsitte, sich neu zu erfinden. Es hält ohne Schmoll und Groll das Fähnlein des alten, untergegangenen Westberlin hoch an diesem Niemandsort zwischen Straßenstrich und Nollendorfplatz. Nebenan ist das vormalige Standesamt Schöneberg, in dem heute X-Filme residiert. Früher standen auf dem Parkplatz mit dem Schild „Nur für Hochzeitsgäste“ die Brennnesseln meterhoch. Heute hängt in einem Fenster das verblichene Filmplakat zu „Die Känguru-Chroniken“. Der Film war im Frühjahr 2020 einer der ersten Kollateralschäden der Pandemie. Eine hochgereckte Kängurupfote mit Boxhandschuh sagt: Hurra, wir leben noch.

Die graumelierten Wände des Einstein haben, vielleicht in der Pandemie, einen neuen Anstrich erhalten. Der ist erfreulich unaufdringlich ausgefallen und die zarte Tönung der Wände beschämt weder die kleinen schadhaften Stellen im Parkett noch das Mobiliar, das Patina angesetzt hat. Das hat etwas von einer alten Frau, die sich zwar zu schminken weiß, aber nicht liften lassen mag; obwohl ihr manche Freundin zurät, weil sie es selbst doch schon längst, und hinterher sieht man so viel besser aus und fühlt sich wie.

Feiern und reden und denken

In der Karte steht jetzt ein Satz des gebürtigen Wieners Alfred Polgar, der 26 Jahre älter war als Hemingway und starb, ein Jahr nachdem dieser den Nobelpreis erhalten hatte: „Im Caféhaus sitzen Leute, die allein sein wollen, aber dazu Gesellschaft brauchen.“ Auch sehr schön, nicht ganz so klassenkämpferisch. Wir wollen niemand ausgrenzen. Gesellschaft, was für ein vieldeutiges Wort. Sagt man „Diese ganze Gesellschaft müsste man rauschmeißen“ klingt es nach „Bagage“. In „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ klingt es kryptisch, weil Luhmann. Es gibt Aktien-, Kommandit- und offene Handelsgesellschaften sowie Gesellschaften für bedrohte Völker, internationale Politik und Musikforschung.

Manchmal brauche ich das Café Einstein, um in Gesellschaft dem Nebentisch ein paar kluge oder dramatische Wortfetzen abzulauschen. Bei meinem letzten Besuch saß gleich nebenan eine muntere, ungeliftete Frauenrunde. Sie spachtelten und erzählten einander voller Lebensfreude Geschichten, unter anderem vom Urlaub mit dem Zelt in Zinnowitz vor mehr als vierzig Jahren. Sie kicherten viel, ermunterten einander, Erinnerungen zum Besten zu geben und fielen sich ins Wort.

A Moveable Feast hieße in einer Neuübersetzung heute womöglich Party To Go. Noch heißt es Ein Fest für die Lebenden. Und die Lebenden sitzen im Einstein und anderswo und feiern und reden und denken in ihren Anekdoten an die Toten der letzten zwei Jahre und erfüllen die Schauplätze der großen Stadt mit Leben, die verwaist waren; sinnlos herumstanden wie die Bühnenbilder eines Theaters, um das sich die Konkursgläubiger streiten.

Das Versprechen der Pariser Cafés zu Hemingways Zeiten hieß: Arme Menschen schreiben gut und sind glücklich. Wer im Einstein sitzt, ist arm höchstens an Geist. Und glücklich? Wenn ich im nächtlichen Garten sitze und hineinblicke in den großen Raum mit den vielen Spiegeln, oder die Kellner sich herbeigelassen haben, mir einen Fensterplatz zuzuweisen, von dem ich in den Garten schauen kann, beschleicht mich die Hoffnung, dass auch nach der pandemischen Erfahrung ein Älterwerden in Würde prinzipiell nicht ausgeschlossen ist.

Café Einstein. Kurfürstenstraße 58, 10785 Berlin, täglich 9 bis 23 Uhr.

Bei www.abebooks.com werden zur Zeit über 900 Ausgaben von „A Moveable Feast“ angeboten. Sie kosten zwischen 0,94 EUR und 3227,55 EUR.