Reichssentimentalitätstag

HISTOX Zeit und Geschichte

Im Narrativ von 1990 ist jeder Tag ein Reichstag.
Foto: Elvira Groot auf Pixabay 

Die Demonstranten* zeigten unterschiedliche Flaggen, als sie auf der Versammlung gegen die Maßnahmen gegen Covid-19 am 29.08.2020 eine Absperrung durchbrachen, die Außentreppe des Reichstagsgebäudes betraten und die Treppensockel links und rechts erklommen. Ein Star-Spangled Banner (der USA) war dabei, die Regenbogenflagge (der LGBTQ-Bewegung) mit der Aufschrift Pace, mehrfach die Bundesflagge in schwarz-rot-gold, die zusammen mit der EU-Flagge auf dem Reichstag weht, sowie die russische Flagge. Kaum einer erwähnte diese Flagen in der Nachbetrachtung der Geschehnisse. Analyse, Kritik und Empörung kaprizierten sich auf die „Reichsflagge“, die von 1867 bis 1918 offizielles Staatssysmbol des Deutschen Reichs war.

Respekt für das Parlament

Die Verletzung der Legislative in einer parlamantarischen Demokratie ist keine Bagatelle, auch nicht als symbolischer Akt. In Bonn gab es eine obrigkeitliche Bannmeile, in der Versammlungen verboten waren. Für den Bundestag im Reichstagsgebäude gibt es einen „befriedeten Bezirk“, in dem Versammlungen möglich sind. Eine gute Entscheidung, die voraussetzt, dass das Volk als Souverän den Ort der Gesetzgebung respektiert. Es gibt immer wieder Gruppierungen, die derartige Abmachungen missachten, um größere Aufmerksamkeit für ihre Anliegen zu erreichen. Aber ob Impfskeptiker die Treppen besetzen, Greenpeace während der Debatte über den Kohleausstieg ein Transparent unter die Widmung Dem deutschen Volke hängt (Juli 2020), oder Kapitalismuskritiker* Geldscheine von der Besucher*tribüne werfen und in den Plenarbereich springen (April 2007) – kein Zweck legitimiert derartige Mittel.

Hilflose Dämonisierung

Das Zeigen der Reichsflagge ist nicht verboten, sie wurde im Nachgang zur Versammlung am 29.08. trotzdem vor allem als Symbol für Staatsfeindschaft oder für Sympathien mit der NS-Herrschaft gedeutet. Auch im Staat der NSDAP wurde die Flagge von 1933 bis 1935 verwendet, danach gab es eine neue Reichsflagge mit einem Hakenkreuz. Sie oder die „Reichskriegsflagge“ öffentlich zu zeigen ist heute verboten. Die Dämonisierung der Reichsflagge erscheint mir hilflos und wahllos, da zahlreiche Grundwerte jenes Deutschen Reichs heute integraler Bestandteil der Staats- und Rechtsordnung sind. Zum Beispiel die Reichsjustizgesetze: Das Gerichtsverfassungsgesetz, in dem die Gliederung von Zivil- und Strafjustiz in Gerichtsbezirke und Instanzen geregelt ist, die Strafprozessordnung (StPO), das Strafgesetzbuch (StGB) und die Zivilprozessordnung (ZPO) stammen alle aus den 1870er Jahren. Sie waren nicht nur der Form nach Reichsgesetze, in dem sie vom Reichstag verabschiedet und im Reichsgesetzblatt veröffentlicht wurden. Sie sollten gezielt die Reichseinheit stärken und ersetzten entsprechenende Gesetze in den Einzelstaaten.

Auch das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) wurde ab 1877 entwickelt. Erst, als es 1900 in Kraft trat, endete die Geltung französischen Rechts (Code Napoleon) unter anderem in Baden und Teilen des heutigen Rheinland-Pfalz. Im Deutschen Reich entstanden die Sozialversicherungssysteme, sie waren die Geburtsstunde des heutigen Sozialstaatsprinzips. Es entwickelten sich die SPD, die Zentrumspartei und die liberalen Parteien, die das Parteienspektrum der Bundesrepublik bis 1980 prägten. Eisenbahnsystem und Elektrifizierung wurden geschaffen. All das und vieles mehr geschah im Zeichen der Reichsflagge.

Das Kaiserreich als Wunschmaschine

Warum interpretierten viele die Reichsflagge auf der Corona-Demonstration als „Ersatz-Nazi-Flagge“? Der Historiker Eckart Conze sagte im Spiegel-Interview am 04.09.2020: „Bei einigen dient die Flagge des Kaiserreichs sicher auch als Ersatz für die Hakenkreuzfahne, die verboten ist. Die schwarz-weiß-rote Flagge hat sich offensichtlich als gemeinsames politisches Symbol des Protestes gegen die bestehende Ordnung gefunden.“ Auch deshalb, weil die heutigen Träger der Flagge „eine Homogenität der Bevölkerung“ wünschten. Die Bevölkerung des Kaiserreichs (50 Mio. Ew. 1890) war nicht homogen. Als Folge der Zerschlagung des polnischen Staates von 1795 lebten 1900 etwa drei Millionen Menschen mit Polnisch als Muttersprache im Deutschen Reich. Diese Minderheit hatte eine eigene Reichstagsfraktion (ca. 20 von 400 Abgeordneten). Für Elsaß-Lothringen mit 200.000 Menschen, die Französisch sprachen, gab es 14 eigene Wahlkreise. Vor allem gab es den Konflikt zwischen Katholiken* und Protestanten*, die jeweils ein bzw. zwei Drittel der christlichen Bevölkerung und insgesamt 98,5 Prozent der Bevölkerung ausmachten. Dieser Konflikt eskalierte im Kirchenkampf von 1871 bis 1878. Dazu lebten Sorben*, Dänen*, Tschechen*, weitere Sprach- und nationale Minderheiten und als wichtige religiöse Minderheit Juden* im Reich.

Dieses Reich war geprägt von den gab es immer krasseren Gegensätze zwischen Stadt und Land und dem Leiden der großen Einzelstaaten wie Sachsen und Bayern, die sich vom preußisch geprägten Reich gedeckelt fühlten. Polnische Fraktion und Zentrum waren Ein-Punkt-Parteien, die vor allem gegen die Diskriminierung „ihrer“ Minderheit kämpften. Wenn es einmal eine Migranten*partei im Bundestag gibt, sollten wir die „Homogenität“ der Bevölkerung im Deutschen Reich noch einmal diskutieren. Mir fällt kein Grund ein, warum es eine solche Partei angesichts der Lahmarschigkeit aller Parteien im Kampf gegen Rassismus, und andere Formen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit heute nicht geben sollte.

Schlossattrappen an jeder Ecke

Der Vorwurf, durch das Zeigen der Reichsflagge hätten die Coronamaßnahmengegner* ihre „Ablehnung des gegenwärtigen politischen Systems“ (Conze) zum Ausdruck gebracht, wirkt vollends absurd, wenn man sich klar macht, dass im Rahmen der offiziellen Geschichtspolitik seit 1990 vor allem Symbole jenes Kaiserreichs angeboten werden, um die beiden vermeintlichen Anomalien DDR und NS-Staat zu überwinden und zu einer vermeintlich normalen, gereinigten historischen Identität zurückzukehren. Als staatliche Symbolarchitektur gehören dazu vor allem die Errichtung der Berliner Stadtschlossattrappe, die Potsdamer Schlossattrappe als Sitz des Brandenburgischen Landtags und – last but not least – das Reichstagsgebäude selbst.

„Raum für Vielstimmigkeit, Austausch und Diversität“ verspricht das Humboldt-Forum auf seiner Website, was sonst. Aber musste man dafür eine bauliche Ummantelung errichten, die für lauter andere Sachen steht: Gottesgnadentum, Absolutismus und die Verbrechen des Ersten Weltkriegs? Der Hauptzweck des Schlosses war die Tilgung des Palastes der Republik aus dem Stadtbild, nicht zuletzt deshalb, weil viele Bürger* der DDR das Gebäude mochten, weil die DDR durch „Erichs [Honeckers] Lampenladen“ zu ihrem Land wurde. Jetzt hat man eine spätimperiale Fassade für eine Sammlung geschaffen, die hoffentlich vor allem eines bewirken wird: Die wilhelminischen Kolonialverbrechen in das Zentrum der öffentlichen Diskussion zu stellen. Wenn man diese Schlossattrappe abfeiert, wie kann man die Reichsflagge ächten?

Jener Palast war trotz aller Fehler und Verbrechen seines politischen Systems immerhin einer Republik gewidmet. Mit dem republikanischen Bauen tut man sich ansonsten schwer in Deutschland. Einige Landtage bezogen nach 1945 ein Schloss als Provisorium (u.a. Hessen, Niedersachsen) und sind dort bis heute untergebracht. Der Landtag in Nordrhein-Westfalen errichtete 1988 ein neues Gebäude für seine Arbeit. Vorher hatte er im Ständehaus der preußischen Rheinprovinz getagt. Im französisch geprägten Mainz, wo 1793 die erste Republik auf deutschem Boden nach acht Wochen niedergemacht wurde, tagt der Landtag im Deutschhaus, wo der Rheinisch-Deutsche Nationalkonvent als erstes frei gewähltes Parlament seinen Sitz hatte. In Schwerin tagt der Landtag im Schloss, in Magdeburg in einem Gebäude, für das ein Festungsbaumeister des 18. Jahrhunderts verantwortlich zeichnete. In Dresden und Erfurt wurde bestehende Bausubstanz nach 1990 um einen Plenarsaal erweitert.

Republikanische Parlamentsarchitektur – Fehlanzeige

In Potsdam hätte man ausloten können, was republikanische Parlamentsarchitektur im 21. Jahrhundert in Deutschland leisten kann bzw. sein will. Die Houses of Parliament waren der vollendete architektonische Ausdruck der bürgerlichen Herrschaft in der konstituionellen Monarchie Großbritannien im 19. Jahrhundert. Dass das Gebäude mittlerweile schwerste bauliche Mängel aufweist, erscheint als eine List der Geschichte angesichts der politischen Zustände seit dem Brexit-Referendum.

In Potsdam steht als Parlamentssitz jetzt ein weiteres nachgebautes Schloss, auf dessen Fassade auf Französisch steht: „Das ist kein Schloss“. Ein Parlamentsgebäude ist es aber leider auch nicht. Jedenfalls keines, das einen klaren Bruch mit der alten Reichs- und Hohenzollernherrlichkeit und ein in die Zukunft weisendes republikanisches Denken zum Ausdruck brächte. Schon schickt man sich an, die Garnisonskirche wieder zu errichten. Hitler, Hindenburg und der preußische Hochadel begründeten dort am „Tag von Potsdam“ ihren Pakt von Ehre und Treue: Der erste Schritt für den kommenden Vernichtungskrieg unter militärischer Verantwortung vorwiegend preußischer Generalität. Aber bitte nehmen Sie Abstand davon, hier Reichsflaggen zu zeigen!

Der Reichstag und die Sehnsucht

Das Reichstagsgebäude ist der am wenigsten missglückte Versuch, Kaiserreich und Bundesrepublik irgendwie so zueinander zu zwingen, dass DDR und Drittes Reich dabei rückstandslos zermalmt werden. Der Wunsch, es besser zu machen als von 1894 bis 1933, das ernsthafte Ziel, den in Bonn erlernten Parlamentarismus weiter zu entwickeln, zu erinnern an den gerechten Krieg der Anti-Hitler-Koalition und die Befreiung, all das spielte hier eine große Rolle. Und in manchen Momenten hat der Bundestag in seinen mittlerweile fast sechs Legislaturperioden in Berlin diesen Anspruch eingelöst. Er hat das Gebäude nicht rein gewaschen (das ist nicht möglich), aber es neu interpretiert, die parlamentarische Tradition weitergeführt, die im Naturkundemuseum und Wasserwerk von Bonn begründet wurde. Einer dieser Momente war die Einführung der Ehe für Alle als letzte Entscheidung der alten Legislaturperiode im Jahr 2017.

Historisch war der Reichstag seit 1894 in Stein errichtete Verachtung des Parlamentarismus. Das Gebäude steht in Tiergarten, außerhalb des alten Stadtgebiets der Residenz Berlin. Wie bei Hunden vor einer Metzgerei legte man für die Abgeordneten fest: „Wir müssen leider draußen bleiben.“ Es ging um die Wurst, also um die Macht. Die Kuppel des Reichstags durfte nicht höher sein als die Stadtschlosses – erst die Dynastie, dann das Parlament. Die vier Türme standen für die vier Monarchien Preußen, Bayern, Sachsen und Württemberg, die eigentlichen Säulen des Reichs. Wolfgang Thierse als Bundestagspräsident bemühte sich bei seiner Eröffnungsansprache nach dem Umzug 1999, parlamentarischen Geist in der alten Hülle zu entdecken. Er meinte, es wäre „verfehlt, die Identifikation mit dem Wilhelminismus allzusehr zu strapazieren.“

Aber als Parlament hat der Reichstag keine glückliche Geschichte. 1895 sprach dort der Abgeordnete Hermann Ahlwardt über jüdische Zuwanderung aus Osteuropa. Er war Mitglied der „Antisemiten-Partei“, die sich selbst so nannte. In seiner Rede bezeichnete Ahlwardt die Juden als „Cholerabazillen“ und schlug ihre Vernichtung vor. Wer das Plenum von Ahlwardt und zahlreichen anderen Rasseantisemiten jener Epoche zu seinem Bundestag macht, braucht sich über Reichsflaggen auf den Stufen nicht zu wundern. Es gibt in der seit drei Jahrzehnten liebevoll gepflegten Reichssentimentalität keine Dialektik von Kontinuität und Bruch. Es bleibt völlig verwaschen und beliebig, welches Element dieser deutschen Epoche als legitim integriert werden soll und welches als verabscheuungswürdig als prä-, post- oder pseudo-nazistisch zu ächten ist. Hindenburg dient als Patron für Straßennamen, Ludendorff war als Mitputschist Hitlers, beide als Kriegsverbrecher in der Obersten Heeresleitung 1916 bis 1918 vereint.

Die Wiederbelebung des Reichsgedankens über die eingangs beschriebenen rechtlichen und sachlichen Kontinuitäten hinaus dient einem einzigen Zweck: Der Tilgung der DDR und ihrer historischen Legitimität aus dem Geschichtsbewusstsein. Dreißig Jahre nach dem Einigungsvertrag macht man sich immer noch lieber mit Hindenburg und Ahlwardt gemein als mit dem NS-Opfer Erich Honecker. Alles, was aus der DDR hervorging, so die offizielle geschichtspolitische Lesart, ist wert, aus dem öffentlichen Raum und damit dem kollektiven Gedächtnis zu verschwinden. Das betrifft nicht nur die Gebäude, das betrifft auch ihre Ideengeschichte. Im April 1990 legte der Runde Tisch, ein Zusammenschluss von Bürgerrechtlern* und Oppositionellen ergänzt durch beratende westliche Juristen* einen Entwurf für eine demokratische Verfassung der DDR vor.

Zur Rolle des Reichstags im Kalten Krieg sagte Thierse 1999: „Gut sichtbar über die Mauer hinweg, blieb er ein Blickfang, war Objekt, steinernes Symbol der Sehnsucht nach einem geeinten Deutschland, in dem Demokratie, Frieden, Freiheit des einzelnen und soziale Gerechtigkeit gemeinsam ihre Heimat haben.“

Die nie geschriebene Verfassung der DDR

Diese Sehnsucht, diese große Chance, diese Pflicht, auf der Grundlage von Artikel 146 Grundgesetz eine neue gemeinsame Verfassung zu schaffen, wurde vertan, ersetzt durch den Betritt nach Artikel 23 Grundgesetz, eingetauscht für eine schnelle und bürokratische Lösung..

Einige Artikel jener nie realisierten DDR-Verfassung verdienen es, zitiert zu werden.

Art 1. Abs. 2: Jeder schuldet jedem die Anerkennung als Gleicher. Niemand darf wegen seiner Rasse, Abstammung, Nationalität, Sprache, seines Geschlechts, seiner sexuellen Orientierung, seiner sozialen Stellung, seines Alters, seiner Behinderung, seiner religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung benachteiligt werden. Er nimmt die Ehe für alle vorweg.

Art. 20 Abs. 2: Das kulturelle Leben sowie die Bewahrung und Vermittlung des kulturellen Erbes werden gefördert. In den Haushalten des Bundes, der Länder und der Träger der Kommunalautonomie sind die dafür erforderlichen Mittel vorzusehen. Wie modern, wie weitsichtig liest sich das in Zeiten einer Pandemie, in der das kulturelle Leben kollabiert.

Art. 16 Abs. 1: Jeder hat das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich zu versammeln. Nicht mehr, wie im Grundgesetz nur ein Deutschenrecht, das heute umständlich über eine EU-freundliche Auslegung für Griechen* und Franzosen* und über Artikel 2 Grundgesetz als allgemeines Freiheitsrecht für Türken* und Israelis* konstruiert werden muss. Überfällig für eine moderne Einwanderungsgesellschaft und u.a. in der Landesverfassung von Brandenburg so geregelt.

Art. 23 Abs. 1: Das Gemeinwesen achtet das Alter. Es respektiert Behinderung. Gab es den Begriff „Altersdiskriminierung“ 1990 schon im westdeutschen Sprachgebrauch? „Inklusion“ gab es noch nicht.

Art. 25 Abs. 1: Jeder Bürger hat das Recht auf angemessenen Wohnraum. Es ist ein gesetzlicher Kündigungsschutz vorzusehen. Bei der Abwägung der Interessen des Nutzers und des Eigentümers der Wohnung ist der überragenden Bedeutung der Wohnung für die Führung eines menschenwürdigen Lebens besonderes Gewicht beizumessen. So schrieben die Friedlichen Revolutionäre*. Heute wird die Mietpreisbremse als „Stalinismus“ denunziert.

Art. 131 Abs. 1: Die Bodenreform und die Eigentumsentziehungen, die durch Artikel 24 der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1949 bestätigt worden sind, sind unantastbar. Jahrelangen sinnlosen Rechtsstreit hätte man sich sparen können. Diese Regelung sollte Richtschnur sein bei der Ablehnung der Entschädigungsforderungen der Hohenzollern.

Man stelle sich vor, die beiden Republiken von 1949 hätten sich gegen das Kaiserreich und das NS-System verbündet. Der Runde Tisch und ausgewählte Westdeutsche aus Parteien und Organisationen der Zivilgesellschaft bilden einen Zweiten Parlamentarischen Rat. In die gemeinsame Verfassung fließen wesentliche Elemente des Entwurfs vom April 1990 ein. Sitz des Bundestags wird der Palast der Republik mitten im Stadtzentrum, dessen Sanierung weniger gekostet hätte als die Schlossattrappe. Was hätte das für eine Bundesrepublik werden können.

Die Fratze des Reichs

Die Präambel der DDR-Verfassung schrieb Christa Wolf: „Ausgehend von den humanistischen Traditionen, zu welchen die besten Frauen und Männer aller Schichten unseres Volkes beigetragen haben…“ Dieses Volk war das Volk der DDR. Aber weil es die DDR nie hätte geben sollen, gab es 1990 keine neue republikanische Verfassung. Das westdeutsche Grundgesetz sollte den Weg weisen in eine nicht gemeinsame, nur vereinigte Zukunft. Das Kaiserreich sollte historische Kontinuität simulieren. Auch deshalb, wegen dieser autoritären und einseitigen Staatsgründung, tanzen heute Menschen mit „Reichsflagge“ vor dem Reichstag herum. Es ist ein wenig so wie in Das Bildnis des Dorian Gray von Oscar Wilde. Während Dorian sich als ewig gut aussehender Lebemann ins Gesellschaftsleben stürzt, altert für ihn sein Porträt zum Abbild selbstzerstörerischer Hemmungslosigkeit.

Die Sieger von 1990 wähnen sich heute in einem schlüssigen, erfolgreichen, modernisierten Nationalnarrativ, das Platz für das Reichsstrafgesetzbuch ebenso hat wie für Hindenburg. Alles wird mit einem mahnenden „zwar – aber“ routiniert verbaut. Keinen Platz gibt es für den Palast der Republik und die Verfassung der Bürger*rechtsbewegung. Tatsächlich zeigen Reichsbürger* mit und ohne Reichsflagge die Fratze jenes autoritären und vielfach menschenfeindlichen Staats, der zusammen mit seiner Monarchie zurecht 1918 unterging. Niemals hätte er als Grundlage für die Staatsgründung von 1990 Verwendung finden dürfen.