Die letzten Sekunden der Menschheit

HISTOX Allgemein

Bildrechte: starfruit Verlag, Fürth

Der letzte Text in diesem schwierigen Jahr soll einer sein, bei dem es am Ende gut ausgeht, einer, der Hoffnung macht. Und Fußball, vor allem, als Fan des 1. FCN, des 1. Fußballclub Nürnberg, ist eine lebensnahe Schule, die einen in langen, entbehrungsreichen Jahren lehrt, Optimist zu werden. Wer mich ausschließlich von meiner Arbeit als Rechtshistoriker im Kontext von Histox kennt, für den mag ein Text zum Thema Fußball eine Abschweifung sein. Das ist aber nur auf den ersten Blick so. Fußball als gesellschaftliches und historisches Phänomen ist eng mit einigen für mich wichtigen Fragen verbunden. Das Wie und Warum von Polizeieinsätzen bei Fußballspielen berührt beispielsweise meine Tätigkeit als Lehrbeauftragter an der Hochschule der Polizei des Landes Brandenburg.

Touchdown auf dem Reichsparteitagsgelände

Fußball und Nationalsozialismus gingen nach 1933 eine enge Verbindung ein. Der DFB-Pokal, dessen Endspiel seit vielen Jahren in Berlin ausgetragen wird, begann 1935 als Tschammerpokal, benannt nach dem Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten. Der 1. FCN gewann den Pokal 1935 sowie 1939 und wurde 1936 Meister. Ansonsten hielt sich der Verein aus der Stadt der Reichsparteitage in der NS-Zeit mit sportlichen Erfolgen zurück. In den zwanziger Jahren war der 1. FCN so erfolgreich und berühmt, dass er seitdem „Der Club“ genannt wird. Das heutige Max-Morlock-Stadion, benannt nach dem Nürnberger Nationalspieler, der 1954 im Endspiel gegen Ungarn den wichtigen Anschlußtreffer zum 2-1 für (West)Deutschland erzielte, befindet sich auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände. 1928 im Stil der Neuen Sachlichkeit errichtet, wurde es von den Nazis vereinnahmt. Hitler sprach hier zur deutschen Jugend über Leder, Kruppstahl und Windhunde.

Bei meinen ersten Besuchen im damals Städtischen Stadion in den siebziger Jahren führte der Weg vorbei an den Bauten aus tausendjähriger Zeit. Links war die Haupttribüne mit der Rednerplattform für Hitler, rechts trainierten US-Soldaten American Football. Mit einem komischen Ei und komischen Toren, die sie zwischen den mittlerweile überwucherten Stümpfen der Herrenmenschen-Architektur errichtet hatten, entnazifizierten sie das Gelände Woche für Woche mit Touchdowns und Tackles. Im Vorspann zum Film Das Urteil von Nürnberg von Stanley Kramer aus dem Jahr 1961 ist zu sehen, wie das riesige Hakenkreuz von der Tribüne weggesprengt wird. Heute wird diskutiert, ob diese „Zeppelintribüne“ für 100 Mio. EUR restauriert werden soll, oder ob man sie kontrolliert verfallen lässt.

Wenn es nach mir geht, sollte man die Überreste abtragen, zerkleinern und aus den Krümeln einen Schriftzug „NIE WIEDER“ auf dem Gelände anlegen, so groß, dass er von den Flugzeugen aus zu sehen ist, die in Nürnberg starten und landen. Das gemeinsame Steine klopfen, an dem Menschen aus aller Welt sich beteiligen dürften, sofern sie es wollten, wäre eine mehrwöchige antifaschistische soziale Plastik.

Lingua franca mit Außenrist und Übersteiger

Fußball ist neben Essen/Kochen, Musik, Tanz und Sexualität eine der universellsten kulturellen Ausdrucksformen. Auch Menschen, die dieser vielschichtigen und komplexen Kunstform, die in ihren besten Momenten völlig zurecht als poetry in motion bezeichnet wird, eher distanziert gegenüberstehen, werden mitbekommen haben, dass der Tod des argentinischen Spielers Diego Armando Maradona im emotionalen Haushalt dieses Planeten 2020 deutlich höhere Wellen geschlagen hat, als, sagen wir, der Tod von Pierre Cardin, Kobe Bryant oder Kirk Douglas, alle drei internationale Berühmtheiten und Meister ihres jeweiligen Fachs.

Von ästhetischen Fragen abgesehen interessiert mich Fußballkultur auch als Form von Gemeinschaftsbildung im Zusammenhang mit meinen Arbeitsfeldern Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Gewaltfreier Kommunikation. In den USA, in Israel, Italien, Frankreich und Dänemark habe ich Fußball gespielt, in Nürnberg, Fürth, Berlin, Detmold, Freiburg, Köln und anderswo. Es ist eine lingua franca mit Außenrist und Übersteiger. Bolzplätze und Stadien sind Orte öffentlicher Diskussion mit mal mehr oder weniger plump formulierten Meinungsbeiträgen. Dass die europäischen Ligen ihren Spielbetrieb in der Pandemie unter den Bedingungen höchster Privilegiertheit nur deshalb aufrecht erhalten dürfen und müssen, damit viele Vereine nicht pleite gehen, ist den Prinzipien von Markt und Kommerzialisierung geschuldet. Man sollte die stärkende psychologische Wirkung eines Ereignisrhythmus für viele Menschen aber nicht unterschätzen, bei dem sie sich einmal die Woche auf etwas freuen können. Oder inbrünstig leiden.

Juli 2020 – Der 1. FC Nürnberg am Rande des Abgrunds

Das erste Halbjahr 2020 war für den FCN eine einzige Katastrophe. Woran das lag, würde hier zu weit führen, aber am Ende der Saison stand er in der Zweiten Liga auf Platz 16. Er musste in die Relegation gegen den FC Ingolstadt, Tabellendritter in Liga 3. Das Hinspiel in Nürnberg gewann der Club mit 2-0. In Ingolstadt stand es zur Halbzeit 0-0. Alles schien auf einen glanzlosen Klassenerhalt hinauszulaufen. Doch zwischen der 53. und 66. erzielte Ingolstadt drei Tore. Wäre es dabei geblieben, wäre der Club abgestiegen.

In der sechsten Minute der Nachspielzeit stand es immer noch 3-0, als Stürmer Fabian Schleusener nach einer blind in den Strafraum geschlagenen Bogenlampe des Abwehrspielers Patrick Erras mit der Zehenspitze den Ball ins Tor stocherte und so das 3-1 für den Club erzielte. In der Relegation zwischen Zweiter und Dritter Liga gelten dieselben Regeln wie in der Champions League. Nach 2-0 in Nürnberg und 3-1 in Ingolstadt stand es nach beiden Spielen 3-3. Da Nürnberg in Ingolstadt ein Auswärtstor erzielt hatte, blieb Ingolstadt unten, der Club in Liga Zwei.

Oliver Fritsch ist, wie er selbst sagt, kein wirklicher, im Trikot gewaschener Clubberer. Aber durch seine Frau Katharina, die seit vielen Jahren für den FCN arbeitet, hat er eine gewisse emotionale Nähe zum Verein entwickelt. Fritsch ist Sportjournalist bei Die Zeit und Zeit online, war Mitbegründer mehrerer hochkarätiger Fußballwebseiten und zusammen mit seinem Freund und Trauzeugen Roland Wittner Amateurtrainer. Fritsch schreibt lesenswerte Texte, unter anderem zum Karriereende von Philipp Lahm.

Am 11. Juli 2020, dem Tag, an dem der Club in Ingolstadt um seine Existenz spielte, war Fritsch im Max-Morlock-Stadion und erlebte, wie sich nach dem Tor von Schleusener alle Schleusen öffneten: Mitarbeiter* im Stadion, Fans online, Spieler und Staff in Ingolstadt, alle taumelten oder stürzten in einen emotionalen Ausnahmezustand. Fritsch beschäftigte dieses Spiel und sein Ende über Wochen, er hörte von vielen Menschen, die völlig außer sich waren, und er beschloss, ein Buch zu schreiben. Wir kennen uns nicht persönlich, folgen uns aber auf Twitter; so gelangte das Buch zu mir (Oliver Fritsch, Fußball als Nahtoderfahrung, starfruit publications, Fürth 2020, 184 S. 25 EUR).

Es ist ein schönes Buch geworden. Es wärmt in kalten Tagen und erinnert daran, dass in den leeren Stadien, in denen es ohne Zuschauer* hallt wie in einer künstlichen unterirdischen Welt, etwas stattfindet, was bei vielen Menschen trotz Musik vom Band, Kommerz und plastoiden Playstation-Avataren unbeschreibliche Gefühle auslöst. Den Hauptteil bildet ein langes Gespräch zwischen Fritsch und Wittner, dazu kommen Stellungnahmen von Christian Mathenia, dem Torhüter des FCN, der nach dem Abpfiff als schluchzendes Bündel auf dem Ingolstädter Rasen lag, vom Torschützen Fabian Schleusener, dem langjährigen Clubfan Achim Greser von Greser&Lenz, deren Karikaturen sowohl das Satiremagazin FAZ als auch die konservative Tageszeitung Titanic veredel(te)n, dem unterlegenen Ingolstädter Spieler Marcel Gaus, Michael Sörgel vom YouTube-Kanal BeglubbtTV, Clubtrainer Michael Wiesinger, Katharina Fritsch und Rosalie Margreitter, der Frau des Clubspielers Georg Margreitter. Dazu gibt es eine Fotostrecke des Bildjournalisten Daniel Marr; auf einem der Bilder sieht der wenige Tage später entlassene Sportdirektor Robert Palikuca so aus wie Dieter Borsche in einem Edgar-Wallace-Film, wenn er einem schwer erziehbaren Jugendlichen die Beichte abnimmt.

Wo waren Sie, als das Schleusener-Tor fiel?

Stimmen zum Spiel:

„Eine halbe Stunde waren wir in der Dritten Liga, eine halbe Stunde, in der ich durch einen Tunnel ging und das weiße Licht sah.“

„Gibt es einen überzeugenderen Beleg, dass man ein moderner und emanzipierter Mann ist, wenn man seiner Frau in der Frage folgt, zu welchem Verein man hält?“

„Sascha schrie nach dem Tor ‚Ihr Wichser!‘ Wir haben später darüber gesprochen. Er weiß gar nicht genau, wen er damit meinte.“

„Hat es schon einmal Sieger gegeben, die so bitterlich geweint haben?“

„Ingolstadt hat mir wieder die alte Grundsatzfrage des Fußballs vor Augen geführt: Mit wem schaut man ein Fußballspiel? Da kann man viele Fehler machen.“

„Neulich habe ich geträumt, Fürth wäre abgestiegen. Das sollte ich mit meinem Therapeuten besprechen.“

„Jubeltrauben sind nicht so angenehm, wie sie aussehen. Ich habe einen Fuß im Gesicht.“

„War der Sieg am Ende nur eine Fotomontage der NASA, eine Erfindung von DAZN?“

„Ich möchte so etwas nicht mehr erleben.“

„Der Club-Fan findet gedanklich stets einen Weg zur nächsten Katastrophe.“

„Es gab Ansprachen der Trainer, dann entschuldigte sich Kapitän Hanno Behrens bei uns für die ‚Scheiß-Saison'“.

„In der Kreisliga bist du konfrontiert mit der ganzen Welt.“

„Auf der Straße umarmen mich seitdem immer wieder wildfremde Menschen, trotz Corona.“

„Fußball ist Privatsache, wie der Glaube.“

Mit anderen Worten: Ein absolutes must-read.

In jener Woche war ich im Urlaub auf Malta. Es gab kein ZDF im Hotel, das W-Lan war wackelig. Ich war erschöpft von drei Monaten Online-Unterricht mit und ohne Lockdown, wohlig müde von Sonne und Meer. In der ersten Halbzeit las ich noch den Live-Ticker der Fußballzeitschrift kicker, als es zur Pause 0-0 stand, machte ich ein Nickerchen. Oder war es ein Power-Nap, um mich auch im Urlaub nach allen Regeln der Kunst zu striegeln und zu selbstoptimieren? Egal. Als ich wieder aufwachte, stand es 3-0 für Ingolstadt. Jetzt brauchte mich die Mannschaft. Der Club ist ein Verein, der legendär dafür ist, sich gute Ausgangspositionen kaputt zu machen. Seine Fans haben dafür die Formel geprägt: „Der Club ist ein Depp“. Ich setzte mich auf den Balkon, wo der Empfang besser war, und las mit Schadenfreude die entsetzten Tweets all jener, die mit überzogenen Erwartungshaltungen und Feindseligkeit gegenüber der sportlichen Leitung eine sinnvolle Entwicklung beim Club in den Monaten zuvor verhindert hatten. Das hatten sie jetzt davon.

Abstiegstweet fertig , die Stimmung kippt

In der 94. Minute hatte ich meinen fundiert begründeten, aphoristisch veredelten, hintergründigen und dabei nicht zu langen Abstiegstweet fertig fomuliert und wartete auf den Schlusspfiff. Dann kippte die Stimmung in meiner Timeline. Aus wüsten Beschimpfungen, bitterster Enttäuschung und nackter Panik wurde wortlose, mit Emojis gesättigte Glückseligkeit; aus Ungläubigkeit wurde Ekstase. Nichts war vergessen, nichts war verziehen, aber wir hatten es geschafft. Der Club hatte seinen eigenen Mythos geköpft und war dem Tod von Schippe gesprungen.

Die bewegten Bilder mit dem Kommentar des Fanradios („Was macht dieser Verein mit seinen Fans?“) sah ich erst, als ich wieder in Berlin war, und seitdem mehr als einmal. Das letzte Spiel vor Weihnachten 2020 gewann der Club mit 1-0 gegen Aue. Momentan steht er auf Platz 7 in Liga 2. Er spielt stetig besseren Fußball. Die Mannschaft ist im wesentlichen beisammen geblieben. Sie hat viel Potenzial und viele angenehme Spieler. Allerdings ist es verdächtig ruhig im und um den Verein. Wo das wohl hinführt? Nicht mehr nach Ingolstadt, bitte. Einmal Nahtod reicht.