Influenz-Patienten im Krankensaal von Camp Funston, Kansas, 1918 (Creative Commons) https://journals.plos.org/plosbiology/article?id=10.1371/journal.pbio.0040050 

Das Rettende auch

HISTOX Zeit und Geschichte

Influenza-Patienten im Krankensaal von Camp Funston, Kansas, 1918 (Creative Commons)
https://journals.plos.org/plosbiology/article?id=10.1371/journal.pbio.0040050

Die Pandemie ereilt uns (die Menschheit) im Hölderlin-Jahr 2020, da liegt es nahe, sich mit dem Vers aus dessen Hymne Patmos Mut zu machen. Wo aber Gefahr ist, wächst / das Rettende auch. Auf absehbare Zeit wird erst einmal die Zahl der Erkrankten und Gestorbenen wachsen; in dem einen oder anderen Land zwar schon etwas langamer als in den vergangenen vier Wochen, aber ein Abflauen weltweit ist nicht abzusehen. Selbst wenn es gelingt, die Kurve auf eine Verdoppelung in zehn Tagen abzuflachen, bedeutet das eine Verachtfachung binnen eines Monats. In Deutschland mit heute 72.000 Erkrankten wären das Ende April 576.000 Erkrankte. Davon werden etwa 150.000 bereits wieder auskuriert sein, aber diejenigen, die vor allzu schneller Lockerung der Einschränkungen warnen, liegen vermutlich richtig.

Coronadaten wie im Online-Shop

Täglich schaue ich auf die Liste bei Worldometers, wo die Neuerkrankungen, die Gesamtzahl der Toten, die neu hinzugekommenen Toten, die Toten pro 1 Million Einwohner* und weitere Daten für 200 Länder und zwei Kreuzfahrtschiffe ständig aktualisiert werden. Jede Spalte kann ich auf- und absteigend sortieren wie in einem Online-Shop, und ich habe mich dabei ertappt, dass ich an den Medaillenspiegel bei Olympischen Spielen gedacht habe: Wo stehen wir (die Deutschen) denn, in dieser pandemischen Tabelle? Fast schon gleichauf mit China bei den insgesamt Erkrankten, aber hinter Großbritannien und den Niederlanden bei den Toten. San Marino liegt mit 766 Toten pro 1 Million Einwohner uneinholbar vorne, obwohl bzw. weil es nur 33.420 Einwohner hat. Von den dort 236 Erkrankten sind bis heute 26 gestorben. Die Tabelle, die nach Kriterien beliebig sortiert werden kann, ist eine neue Erkenntnisform, die Internet und Excel hervorgebracht haben.

Das alte „Wir“ braucht Gegner*

Wo also wächst das Rettende? Der Coronavirus führt vor Augen, wie sich Gemeinschaften herausbilden (können). Wer fängt unter welchen Voraussetzungen an, von einem „Wir“ zu sprechen? Stark vereinfacht lassen sich zwei Modelle unterscheiden, ein gescheitertes und ein vielleicht rettendes. Das gescheiterte Modell der Vergemeinschaftung geht davon aus, dass sich ein „Wir“ nur in Abgrenzung von anderen Menschen(gruppen) entwickelt. „Wir“ sind die, die eine bestimmte Sprache sprechen, eine bestimmte Religion praktizieren oder eine bestimmte Nationalität besitzen. Es braucht die Anderen, um als Gruppe zu sich selbst zu finden: Wir und sie. Dieses Modell leidet daran, dass das eigene Wir durch eine ständige Bekräftigung des Andersseins frisch gehalten werden muss. Außerdem bereitet es den Boden für Überlegenheitsideologien. „Wir“ bedeutet nicht nur anders, sondern auch besser als die zu sein, die nicht zur eigenen Gruppe gehören. Religionskriege, Vertreibungen, Nationalismus, völkisch motivierte Vernichtungspolitik gingen aus diesem Modell hervor. Für viele Beobachter* der geschichtlichen Entwicklung und der aktuellen Gesellschaft ist aufgrund dieser Erfahrungen jede Form von Vergemeinschaftung abzulehnen. Jede Gruppenidentität kann gar nicht anders, als sich auf eine andere Gruppe negativ beziehen; sie schafft die Grundlage für jede Art von Massenverbrechen und Unterdrückung.

Gemeinsam gegen die Gefahren

Das vielleicht rettende „Wir“-Modell geht davon aus, dass menschliche Gemeinschaft entsteht in der Bewältigung einer Gefahrensituation durch eine größere Zahl von Menschen. Ein wichtiges historisches Beispiel dafür sind die Städte der italienischen Poebene der frühen Neuzeit (etwa ab 1250 christlicher Zeitrechnung), zum Beispiel Mailand, Ravenna, Padua und Turin. Weil, so die These, die Bewohner* der Poebene regelmäßig von verhehrenden Überschwemmungen heimgesucht wurden, mussten sie sich vergemeinschaften. Der Handlungsdruck, eine Gefahr von außen zu besiegen, machte einige dieser Städte zu den modernsten ihrer Epoche mit vergleichsweise hohen demokratischen Standards, wenn auch noch nicht im heutigen Sinne. Es ging nicht darum, dass die eigene Gruppe besser war, besser als das Hochwasser, sondern dass sie überlebte. Auch der gemeinsam organisierte Schutz vor Feuersbrünsten oder der Hausbau, der für eine einzelne Familie nicht zu bewerkstelligen war, schufen einen Weg der Vergemeinschaftung, der ohne fremde Gruppe auskam. Wer beim Hausbau mithalf, gehörte zur Dorfgemeinschaft, wer zur Dorfgemeinschaft gehören wollte, musste beim Hausbau mithelfen, wenn er nicht gebrechlich war. Zum „Wir“ wurden die, die gemeinsam ein Ziel erreicht hatten. Mit diesem zweiten Modell von „Wir“-Bildung waren weder ungleiche Eigentumsverhältnisse noch Geschlechterdiskriminierung aus der Welt geschafft. Entscheidend war, dass sich ein Wir ohne Fremdgruppe bilden konnte, aus der Aufgabe heraus. Ich sympathisiere mit diesem zweiten Modell. Es ist historisch gut belegt, es kommt ohne Herabwürdigung/Ausgrenzung von anderen Menschen(gruppen) aus und widerlegt zugleich die These, jede Form von Gemeinschaft führe unweigerlich zu Ausgrenzung, ungerechter Herrschaft und Massenverbrechen.

Reserven und berufliche Spezialisierung

Was für die Menschen der frühen Neuzeit die Poebene war, ihre gemeinsame Welt, das ist heute der irreversibel globalisierte Planet. Es wäre hochgradig anachronistisch, am Ende der Pandemie in einem bestimmten Land zu behaupten, „wir“ allein hätten den Virus besiegt. Es darf als sicher gelten, dass genau dieser Anachronismus in zahlreichen Ländern zu beobachten sein wird. Trotzdem: Die existenzbedrohenden Gefahren lassen sich nur in weltweiter Kooperation bekämpfen. Damals wie heute brauchen fürsorgende, funktionierende Gemeinschaften zwei Dinge: Reserven für den Krisenfall und berufliche Spezialisierung. Irgendwann nach 1250 hatte man verstanden, dass die Schäden viel geringer ausfallen, wenn man dem Fluß Platz gibt, wenn die verfügbare Fläche nicht bis zum Anschlag für die Wertschöpfung verwendet wird. Der Mehrwert entstand durch die geringeren Schäden. Ein Gesundheitssystem, das im Normalzustand kaum noch auf Kante genäht betrieben wird, hat keinerlei Elastizität, wenn die Pandemie alle Infrastruktur mit sich reißt wie eine Überschwemmung. Berufliche Spezialisierung bedeutete damals Geologie, Statik, Meteorologie, alle mit immensen Fortschritten in ihrer Epoche. Heute benötigt die Gemeinschaft Statistiker*, Ärzte*, Pfleger*, Pharmakologen*. Und das ungeschulte Volk ohne Fachkenntnis darf Balken bzw. Masken tragen, um sich nützlich zu machen.

Der globale Grippeschutz der WHO – seit 1947

Nach der Großen Grippepandemie von 1918 dauerte es bis 1947, bis die WHO ein weltweites Programm zur Verhinderung einer Grippe-Pandemie etablierte, das Global Influenza Program (GIP). Die beiden Wir-Modelle existierten parallel zueinander. Einerseits gab es „Wir und sie“ in der bipolaren Welt des Kalten Krieges, der mit Fanatismus, heiligem Ernst und einer unglaublichen Ressourcenverschwendung ausgetragen wurde. Zugleich hatte sich jedoch bereits der Gedanke etabliert, dass alles Kriegführen, um dem eigenen Wir zum Sieg zu verhelfen obsolet würde, sollte es wieder zu einer Pandemie kommen. Vorne tobten Kubakrise, Einparteiendiktaturen, Kommunisten*verfolgung, Mauerbau, Wettrüsten und zahllose Stellvertreterkriege – quasi als Hintergrundprogramm auf der Festplatte des Planeten lief ein blockübergreifendes Monitoring, um die Existenz der Gattung Mensch vor nicht vom Menschen verursachten tödlichen Gefahren zu schützen. Wenn wir (die Menschheit) ausgerottet werden, dann bitte von eigener Hand.

Patmos und Lesbos

Wer vernünftig ist, hat begriffen, dass das erste „Wir“-Modell, das auf Konkurrenz und Hierarchie basiert, ausgedient hat und dass wir ohne das zweite, das sich um lebenssichernde Minimalstandards bemüht, nicht auskommen. Aber wer will schon vernünftig sein? Hölderlin, der wie Hegel 1770 geboren wurde, schrieb seine Hymne Patmos im Jahr 1803. Diese kleine griechische Insel liegt 280 km südlich von Lesbos. In den griechischen Flüchtlingslagern feiert das alte Wir gräßliche Urständ‘, Tag für Tag. Das Rettende wächst, aber die Gefahren sind zahlreich und zäh.