Rezension – Klaus Marxen, Weiheraum

HISTOX Cultural Studies, Gerichte, Recht und Justiz

Weiheraum heißt der Roman von Klaus Marxen, der seit 1993 an der Humboldt-Universität tätig ist. Der Titel, erläutert der Strafrechtsprofessor a.D. in einer Vorbemerkung „Über Wirklichkeit und Wahrheit“ (5), bezieht sich auf einen Raum im Wiener Landesgericht für Strafsachen, in dem an die 1184 Opfer der NS-Justiz in Wien erinnert wird. Vor diesem Hintergrund erzählt Marxen zwei Familiengeschichten zwischen 1880 und 1959, eine tschechische und eine deutsche, die bei einer Verhandlung des Volksgerichtshofs in Wien im Jahr 1943 zusammentreffen.

Friedrich Liedke, geboren 1901 in Jüterbog, arbeitet als Ankläger beim Volksgerichtshof. Sein Chef ist Oberreichsanwalt Ernst Lautz. Liedke ist kein überzeugter Nationalsozialist, durch Fleiß und Sachverstand bringt er es bis zum Ersten Staatsanwalt und Abteilungsleiter. Er erinnert an Dietrich Heßling, den Untertan von Heinrich Mann. Auch der war ein weiches Kind und suchte Sicherheit und Einfachheit in der Nähe der Macht. Heßling glaubte an den Kaiser, Liedke glaubt an Hitler. Er glaubt, dass die Strafjustiz im Kriege hart sein müsse und will den beruflichen Anforderungen stets zur vollsten Zufriedenheit genügen.

In südmährischen Breclav bei Brno wird 1918, im Jahr der Gründung der Tschechoslowakei, Helena Cermakova geboren. 20 Jahre später heißt Breclav Lundenburg, und Helenas Kennkarte ist auf den Namen Cermak ausgestellt, weil die Endung -ova im Protektorat Böhmen und Mähren verboten ist. Die Kennkarte braucht Helena, weil sie heimlich Tomas aufsuchen will. Ihr älterer Bruder, der die Familie im Streit verließ und in England zum Partisan ausgebildet wurde, kehrt 1942 als Fallschirmspringer in die Heimat zurück, um Anschläge gegen die Okkupanten zu verüben. Sein Versteck wird verraten, Olga, die Mutter, und Helena, die ihn mit Lebensmitteln und Medikamenten unterstützten, werden gefangen. Olga verstirbt in Gestapo-Haft an Lungenentzündung, Helena wird zum Tode verurteilt und bringt am 23. September 1943, kurz vor ihrer Hinrichtung, eine Tochter zur Welt. Einige Monate später adoptieren Liedke und seine Frau ein Mädchen aus einem Heim des SS-Lebensborn, das am gleichen Tag geboren wurde und das sie Ingrid nennen. Friedrich Liedke quält bis zu seinem Tod die Frage, ob Ingrid das Kind jener Frau ist, deren Todesstrafe er beantragt hat.

Der Horizont reicht nicht weiter als bis zum nächsten Aktendeckel

Marxens Sprache ist lakonisch, skizzenhaft, immer wieder gelingt es ihm, den emotionalen Innenraum seiner Figuren in wenigen Sätzen zu verdichten. Große Ereignisse blitzen am Rande auf – das Attentat auf Reinhard Heydrich und Roland Freislers Ernennung zum Präsidenten des Volksgerichtshofs 1942, die Waldheimer Prozesse in der DDR 1950 – aber nie wird die Szenerie übervoll. Der Roman liefert kein opulentes Kostümspektakel, die Figuren sind keine verkappten promovierten Zeithistoriker_innen, die jede Situation, die sie erleben, auch noch kontextualisieren. Stimmungen entstehen durch Details: das schleifende Geräusch des Drehaschenbechers, an dem Oberreichsanwalt Lautz beim Beförderungsgespräch mit Liedke seine Zigarette abstreift.

Das Leben eines Menschen ist die Summe seiner Entscheidungen in den Situationen, die ihm widerfahren. Jurist sein bedeutet für Friedrich Liedke die fehlerfreie Anwendung von Normen, sein beruflicher Horoziont reicht nicht weiter als bis zum nächsten Aktendeckel. Ein einziges Mal, in seiner ersten Verhandlung für den Volksgerichtshof in Wien, begehrt er auf. In seinem mündlichen Vortrag stellt er anheim, ob für den Angeklagten „nach der subjektiven Theorie des Reichsgerichts“ (130) nicht Beihilfe in Frage käme. Nachdem ihn die beiden Richter in einer Verhandlungspause zur Rede stellen und auf das Führerprinzip verweisen, beantragt Liedke die Todesstrafe. Ähnliche Zweifel, die er bei Helena Cermaks Verhandlung beiseite wischt, holen ihn nach dem Ende es Krieges ein.

Der Gegenentwurf zu Liedke ist Eva Hirsch. Liedke gibt der 14-Jährigen Nachhilfe in Latein und das Mädchen stellt dem stud. iur. die naheliegenden Fragen, die auch heute im Studium meist keine Rolle spielen (53): Wie funktioniert die Vollstreckung einer Strafe? Was geschieht mit den Kindern von Verurteilten? Warum haben die Personen so gehandelt, die in Liedkes Fällen immer nur A, B, C und D heißen? Liedke weiß keine Antwort darauf und er sucht auch nicht danach, sein ganzes beflissenes Berufsleben nicht, das so vielen Menschen den Tod bringt.

Klaus Marxen, Weiheraum, Bonn 2015, 260 S., 19,99 EUR

Die Rezension erschien zuerst in das freischüßler Nr. 20, Frühjahr 2016. das freischüßler ist die zeitschrift des arbeitskreises kritischer juristinnen und juristen an der humboldt-universität zu berlin (akj-berlin).