Widerstand in der Rosenstraße

HISTOX Zeit und Geschichte

Anfang März jährten sich die so genannte „Fabrikaktion“ und der Protest in der Rosenstraße zum 71. Mal. Mein Rezension ist aus technischen Gründen leider nicht im Erscheinungsjahr des Buches von Wolf Gruner erschienen. Da nach wie vor zahlreiche Alltagsmythen zur Rosenstraße existieren, kann eine Auseinandersetzung mit Gruners Thesen auch neun Jahre später nicht schaden.

Der größte Widerstand kam von den Opfern selbst

Nicht erst seit Margarete von Trottas Film „Rosenstraße“ aus dem Jahr 2002 wird über die Bedeutung der Geschehnisse im Februar und März 1943 in Berlin gestritten. Hat der Protest in einer kleinen Straße in der Nähe des Alexanderplatzes die Deportation von Tausenden von Juden aus Berlin verhindert?

Wolf Gruner, Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte, stellt die Ereignisse in den Kontext des Zwangsarbeitsprogramms, dem die als „Juden“ verfolgten Deutschen im Rahmen der Kriegswirtschaft unterworfen waren. Dabei kann er wesentliche Mißverständnisse und -deutungen, die zur Rosenstraße seit Jahren im Raum stehen, ausräumen. Zum einen war die von den Überlebenden so bezeichnete „Fabrik-Aktion“, eine Großrazzia gegen in der Rüstungsindustrie eingesetzte Juden am 27. Februar 1943, nicht auf Berlin beschränkt. Gruner verweist in diesem Zusammenhang auf bisher unbekannte Gestapo-Befehle für Frankfurt/Oder, Bielefeld und Dortmund. Die Festnahme von etwa 11000 Berliner Juden binnen weniger Stunden ging daher auch nicht auf den Gauleiter der Reichshauptstadt Josef Goebbels zurück. Sie geschah unter Regie der für die Judenpolitik verantwortlichen Gestapostellen in Absprache mit der Arbeitsverwaltung. Festgenommen wurden bei dieser Razzia auch Mitarbeiter der „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“. Die unter der Kontrolle der Reichssicherheitshauptamtes (Gestapo, SD) stehende zentrale Organisation hatte die jüdischen Gemeinden zwangsweise ersetzt.

Bei den Festnahmen war „Jude“ nicht gleich „Jude“. Planmäßig deportiert und ermordet wurden die als Zwangsarbeiter und in der Gemeindeverwaltung eingesetzten  „Volljuden“, die nicht durch einen „arischen“ Ehepartner geschützt waren. Diese Gemeindemitarbeiter sollten durch mit „Ariern“ verheiratete Fachleute ersetzt werden. Für die Auswahl dieser Fachleute diente das Verwaltungsgebäude der Reichsvereinigung in der Rosenstraße Anfang März 1943 als Sammellager. Für die in „Mischehe“ lebenden dort festgehaltenen Juden war eine Deportation nicht vorgesehen. Sie konnte durch den Protest daher auch nicht verhindert werden. Für diese These Gruners sprechen die zum Teil vordatierten Entlassungsunterlagen für die Gefangenen in der Rosenstraße. Auch die Deportationsrichtlinien der Gestapo, die eine Woche vor der Fabrik-Aktion neu gefaßt worden waren, nahmen Juden aus „gemischten Ehen“ ausdrücklich vom Transport in ein Vernichtungslager oder Ghetto aus.

Zweifel an Gruners eindeutiger Unterscheidung weckt die große Zahl der Festgenommenen. Um die etwa 300 Stellen in der Gemeindeverwaltung neu zu besetzen, hätte man nicht 2000 Menschen, darunter auch Jugendliche, die nicht als Jurist, Buchhalter oder Arzt in Frage kamen, überprüfen müssen. Auch war die Deportation der Juden aus gemischten Ehen für Teile der SS stets eine Option, die eher aus Opportunitätsgründen denn aus Prinzip nicht realisiert wurde. Unmittelbare Todesgefahr für die Gefangenen in der Rosenstraße bestand nicht, sicher waren sie trotzdem nicht.

Wer die verästelte Kasuistik des Rassenwahns  dieser Jahre nicht genau kennt, verliert zwischen „Mischlingen 1. und 2. Grades“, „Geltungsjuden“, „privilegierten“ und „nichtprivilegierten Mischehen“ in diesem lesenswerten Buch schnell die Orientierung. Ein kurzes Glossar dazu hätte die Lektüre übersichtlicher gemacht.

Gruner begegnet den Zeitzeugenberichten, die im Zusammenhang mit der „Wiederentdeckung“ der Rosenstraße in den Neunziger Jahren entstanden, mit großer Zurückhaltung. Er stützt sich stattdessen auf bisher unbeachtete Dokumente der NS-Bürokratie und die bald nach Kriegsende gestellten Anträge, in denen „Opfer des Faschismus“ in der DDR  ihren Leidensweg schildern. Nach diesen Quellen gab es in der Rosenstraße nicht das lautstarke Fanal des Widerstands von 6000 Menschen, das Nathan Stoltzfus und andere entdeckt haben wollen. Es war die meist stumme und sture Präsenz einiger Hundert Angehöriger und Bekannter, die demonstrativ auf- und abspazierten, winkten und gelegentlich Lebensmittelpakete abgaben. Der persönliche Mut der Protestierenden wird durch diesen Befund nicht in Frage gestellt. Für Gruner ist der Umstand, dass mehr als 4000 Juden in Berlin rechtzeitig vor der großen Razzia abtauchten, allerdings die bedeutsamere Widerstandsaktion. Individuell in der Entscheidung, massenhaft in ihrer Wirkung, begünstigt durch Warnungen aus den Rüstungsbetrieben und dem Polizeiapparat „unternahmen die Opfer selbst die größte Aktion gegen die Verfolger“ (81).

Wolf Gruner
Widerstand in der Rosenstraße.
Die Fabrik-Aktion und die Verfolgung der „Mischehen“ 1943
Frankfurt am Main 2005, 224 S., 12,95 €