Forum Justizgeschichte, 60 Jahre EMRK

HISTOX Normen, Recht und Justiz

Der folgende, von mir verfasste Bericht zur Jahrestagung des Forums Justizgeschichte erschien im Newsletter 3/2011 des Vereins. Dort findet sich auch der Tagungsbeitrag von Ingo Müller zur Ablehnung der Europäischen Menschenrechtskonvetion (EMRK) durch die westdeutsche Rechtswissenschaft. Der Newsletter enthält ferner den Bericht zur Tagung „Ethik der Geheimdienste in der Demokratie“ in der Akademie Bad Boll, bei der das Forum als Mitveranstalter auftrat. Hinzu kommt die erstmalige Ausschreibung des Richard-Schmid-Preises für hervorragende Leistungen in der Juristischen Zeitgeschichte, Beiträge zur aktuellen Diskussion über die Neugestaltung der Justizgedenkstätte in Wolfenbüttel sowie Literatur- und Linkhinweise.

Zwischen Siegeszug und Symbolpolitik

Die 13. Tagung des Forums Justizgeschichte nahm den sechzigsten Jahrestag der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zum Anlass für eine Bestandsaufnahme. Als im November 1950 fünfzehn europäische Staaten die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ratifizierten, hatten sie wohl kaum die Hoffnung, dass dieses Regelwerk sechzig Jahre später für 800 Millionen Menschen gelten würde. Ob und in welchem Umfang die Menschenrechte respektiert werden, wie sie durchgesetzt werden können, wie wirkungsmächtig zwei supranationale Spruchkörper gegenüber Dutzenden von nationalen Exekutiven sein können und welchen Einfluss die Europäisierung der Menschenrechte auf den deutschen Grundrechtskanon und die Position des Bundesverfassungsgerichts hat, das waren die wesentlichen Fragen, die Ende September bei traumhaftem Herbstwetter von etwa 60 Teilnehmerinnen und Teilnehmern in der Deutschen Richterakademie in Wustrau erörtert wurden. Wie immer machte die Kontextualisierung historischer Entwicklungen und Konflikte in aktuellen rechtspolitische Debatten und die Begegnung von Wissenschaft und Praxis den besonderen Reiz des Wochenendes aus.

In seinem Eingangsreferat stellte Lasse Heerten vom Zentrum für Zeitgeschichtliche Forschung in Potsdam die etwas ketzerische These auf, das zunehmende Interesse in den Geschichtswissenschaften an den Menschenrechten sei ein Indiz dafür, dass deren beste Zeit bereits vorbei sei. In der Tat spricht die von ihm skizzierte Entwicklung von universellhumanitären Forderungen aus der Zeit der Liga für Menschenrechte (vor allem in Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg) und den morality tales in Abgrenzung zu den Verbrechen des NSRegimes (vor allem in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg) hin zur Selbstermächtigung für völkerrechtswidrige Kriege der NATO und westlicher Staaten nicht unbedingt für eine zunehmende Rechtssicherheit durch Menschenrechte. Mit diesem „offenen, rhetorischen Vehikel“ wurden schon immer Interessen transportiert, und gegen die vermeintlich universelle Gültigkeit der westlichen Werte setzt China beispielsweise bewusst seine eigene und partikulare Tradition der ancient rights.

Heertens Feststellung, dass im Völkerrecht die EMRK erst nach Jahrzehnten moralischer (und unjuristischer) Empörung aufgegriffen wurde, fand eine Entsprechung in Thomas Hennes Beitrag zur Geschichte des Europarechts im Palandt, das dort bis 1989 nicht existent war und erst 1999, mit der Solange IIEntscheidung des Bundesverfassungsgerichts, nennenswert in Erscheinung trat. Drei Generationen von Kommentatoren waren nicht in der Lage, über den Tellerrand des Einzelstaats zu schauen. Erst, so die Vermutung, eine europäisch sozialisierte neue Generation, bei der Auslandssemester, Rechtsvergleichung und mehrsprachige Lehrveranstaltungen zum Standard gehören, werde in der Lage sein, das Leitmedium des deutschen Zivilrechts angemessen zu europäisieren.

Auch in der Strafjustiz der Bundesrepublik legte man auf europäische oder supranationale Einflüsse jahrzehntelang keinen Wert. Als der junge Staat dem Europarat beitrat, entschied man sich, den Artikel 7 Absatz 2 der EMRK nicht zu ratifizieren. Dadurch, so Ingo Müller, lehnte der deutsche Weststaat die Nürnberger Prinzipien aus dem Hauptkriegsverbrecherprozess ebenso ab wie die Übernahme alliierter Gesetze als nationales Recht. Dadurch konnten NS-Täter nur nach deutschem Recht bestraft werden, besser gesagt, die westdeutsche Rechtsprechung konnte die Täter im Rahmen des StGB nachhaltiger ungeschoren lassen.

Wie schwer sich das Bundesverfassungsgericht lange Zeit mit der europäischen Konkurrenz in Straßburg (EGMR) und Luxemburg (EuGH) getan hat, erläuterte Christian Tomuschat (Berlin). Mittlerweile allerdings habe sich das Gericht damit abgefunden, nicht mehr Letztentscheidungsinstanz zu sein. Vielmehr wirkten die drei Spruchkörper mehr und mehr in konstruktiver Weise zusammen. Diese Konstellation berge die Chance, dass sich der Status der Menschenrechte in erheblichem Maß verbessern lassen werde. Dass es dabei Überschneidungen gibt – das Bundesverfassungsgericht prüft im Rahmen einer Normenkontrollklage auch Gemeinschaftsrecht, der EGMR prüft auch Grundrechte, tut dieser Dynamisierung keinen Abbruch, und die berufliche Erfahrung in mehr als einem dieser Gerichte wird dazu beitragen, vorhandenen Argwohn weiter abzubauen.

Christiane Schmaltz wechselte im Oktober 2011 von der Kanzlei des EGMR als wissenschaftliche Mitarbeiterin der neu gewählten Bundesverfassungsrichterin Susanne Baer nach Karlsruhe. Seit dem 11. Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention 1998 ist das Gericht in Straßburg zuständig, wenn der nationale Rechtsweg erschöpft ist, auch dann, wenn eine Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe als unzulässig verworfen wurde. Gegen Deutschland gibt es etwa 2.500 Beschwerden pro Jahr, 2006 erfolgte unter anderem eine Verurteilung wegen der überlangen Verfahrensdauern. Etwa ein Viertel der zurzeit 160.000 anhängigen Beschwerden richten sich gegen Russland, was vor allem damit zu tun hat, dass dort 143 Millionen Menschen leben. Trotzdem entsendet auch dieses Land nur einen Richter, genau wie die anderen 46 Länder des Europarats. Dies führt zu einem erheblichen Rückstau, da der nationale Richter stets in der Kammer sitzt, die über die Beschwerde gegen ein Land entscheidet.

Anhand der Diskussion um die Sicherungsverwahrung stellte Grischa Merkel von der Universität Rostock dar, wie Artikel 7 Absatz 1 der EMRK juristische Argumente für die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts lieferte, als es 2011 die nachträgliche Sicherungsverwahrung kippte und damit an die Rechtsprechung des EGMR aus dem Jahr 2004 anknüpfte. Die Verzahnung der verschiedenen Entscheidungen in diesem Fall der Sicherung existentieller Vollzugsgarantien bot ein gutes Beispiel für die optimistische These von Tomuschat.

Dass in der täglichen Arbeit des Rechtsanwenders im nationalen Rahmen die hehren Intentionen der EMRK manchmal sehr weit weg sind, zeigten die Beiträge von Percy MacLean und Carl W. Heydenreich. MacLean ist Verwaltungsrichter in Berlin und gab eine Reihe von Beispielen, vor allem aus dem Bereich des Asyl- und Ausländerrechts, bei denen man das Gefühl bekommen konnte, dass der Gesetzgeber die Menschenrechte nicht achtet, sondern durch Schikanen die Menschen bewusst demütigt, so durch die zahlreichen Erschwernisse bei der Familienzusammenführung. Heydenreich, Strafverteidiger in Bonn, verwies auf die Schwierigkeiten im Strafprozessrecht, unter anderem die stark zunehmende Zahl von Regeln zum Opferschutz, die unverzichtbare Konfrontationsrechte außer Kraft setzen würden. Nach seiner Einschätzung seien Richter an europäischen Gerichten vertrauenswürdiger als an nationalen Gerichten. Nicht nur deshalb würde er es begrüßen, wenn die EU als Ganzes der EMRK beitreten würde.

Die Erfahrungen eines Menschenrechtsaktivisten brachte Peter Franck in die Diskussion ein, der seit mehr als zwanzig Jahren zur Sowjetunion und Russland arbeitet. Auch wenn es dort zum Teil gravierende Menschenrechtsverletzungen gibt und im Land gelegentlich Stimmen laut werden, die die Mitgliedschaft Russlands im Europarat in Zweifel ziehen, beschwor Franck die langfristige Wirkung der Rechtsprechung des EMGR. Ohne die Möglichkeit, über die Beschwerden internationale Öffentlichkeit herzustellen, fehlte russischen Menschenrechtsaktivisten und Bürgerrechtlern ein ganz wesentlicher Verbündeter, da die Justiz in Russland noch nie unabhängig gewesen sei. Ohne permanente Kontrolle von außen agiere die Staatsmacht noch übergriffiger. Ohne EMRK und EMGR gebe es keine Maßstäbe, was rechtens sei. Der Protest gegen Putin und Medwedew und die Wahlfälschung im Dezember 2011 zeigen zumindest, dass man Russland ebenso wenig abschreiben darf wie die muslimischen Staaten, denen man auch zu lange Reformunfähigkeit unterstellte. Einen Eindruck von Gesellschaft des Iran am Vorabend der Proteste gegen Ahmadinedschad gab der Dokumentarfilm von Mohammad Farokhmanesh „Fünf Leben im Iran“, der im Abendprogramm lief.

Fazit: Die Rechtsprechung auf europäischer Ebene ist längst kein exotischer Wurmfortsatz nationaler Rechtsordnungen mehr, die EMRK kein Wunschzettel naiver Weltverbesserer. Auch wenn der moralisch motivierte Universalismus im globalen Maßstab nicht widerspruchsfrei ist, lassen sich doch allgemein gültige Kriterien gegen staatliche Übergriffe im Kontext der europäischen Dichotomie zwischen Staat und Bürger formulieren. Die lückenhafte Umsetzung der EMRK in den Einzelstaaten hat auch etwas damit zu tun, dass es keine gesamteuropäische Öffentlichkeit gibt, die sich für die Konvention und ihr Potenzial stark macht. Viele Rechtsanwender in Justiz und Wissenschaft haben immer noch die nationalen Scheuklappen auf.